Meine spontane Facebook-Reaktion auf den Artikel “Radiomacher inszenieren Amoklauf im SRF-Studio” von heute war: Was soll die Aufregung? Das ist doch eine völlig adäquate Reaktion auf “Ewigi Liebi”.
Zu erwarten war der Tenor zweier Facebook-Kommentare: “Mit meinen Gebührengeldern!” und “Der gehört entlassen”. Ähnliches hat man heute in den Feedbackspalten erwartungsgemäss oft gelesen – greift meiner bescheidenen Ansicht nach aber beides zu kurz.
Ich habe mir das Video erst einige Stunden nach meinem FB-Post angesehen und zuerst schon zweimal leer geschluckt. “Wie doof muss man sein, so einen krassen Scheiss ausgerechnet in dieser Woche in Umlauf zu bringen?”
Beinahe hätte ich meine Statusmeldung reumütig gelöscht.
Dann habe ich den Versuch gewagt, trotz aller Krassivität einfach mal etwas zu abstrahieren. Und komme zum Schluss, dass man auch solcherlei machen dürfen muss.
Sascha “Lügner” Rossiers Special-FX-Versuche (der im Radiostudio ist nicht sein erster) können alle Menschen gern geschmacklos, gruusig und abscheulich finden. Wer selbst auf einer Redaktion arbeitet, und erst noch bei SRF, findet das Dargestellte zweifellos umso beklemmender.
Ich verstehe, wenn jemand sagt “das muss ein verdammt kranker Irrer sein, der diese Idee hat und sie so inszeniert, egal, was er eigentlich für eine Botschaft vermitteln möchte.”
Und um das klarzustellen: 90% des Inhaltes finde ich grauenvoll.
Andererseits – wenn wir Gefühle und persönliche Betroffenheit ausblenden – ist das ein klarer Fall von Geschmackssache, wie wir sie aus allen Lebenssituationen kennen: Was die einen zutiefst ekelt, entlockt den anderen ein müdes Lächeln. Auch wenn wir uns vom Inhalt des Videos, das im Prinzip ein Pamphlet ist, schockiert bis angewidert fühlen, genau so wie ich, müssen wir – auch wenns uns schwer fällt – akzeptieren, dass andere anders empfinden.
Die Grenze zwischen “geht überhaupt nicht” und “momool, passt scho” ist halt einfach mal individuell. Das ist bei Lichte betrachtet ein ganz übler Allgemeinplätz, doch in dieser Diskussion geht das grad chli allzu sehr vergessen.
Wer die künstlerische Freiheit hochhält, muss auch Dinge tolerieren, die der eigene Geschmack automatisch unter “absolutely disgusting” subsumiert, ob das jetzt “Ewigi Liebi”, Göläs “Schwan”, Grass’ Gedicht, Freysingers Prosa, Munchs Schrei, Mozart, Bon Jovi, ein Splatterfilm oder Rossiers Übungsvideo ist. Der Plot ist zum Kotzen, aber es waren ausschliesslich Erwachsene am Werk, rechtlich sehe ich keine Probleme.
Und moralisch? Muss ich nun ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich als Pazifist und Gewaltverabscheuer die Augen zukneife beim spritzenden Blut, mir an den Kopf greife, dass es so brutal zu und her geht, doch zugleich überlege, wie Rossier das technisch wohl genau umgesetzt haben könnte und bei der Schlusspointe trotz des bis dahin Gesehenen kurz lachen muss? Ich denke nicht. Mein Humor kann so schwarze Facetten haben, dass das drinliegt. Wer mir nun schockiert in die virtuellen Augen blickt, kann sich ja in einer freien Minute ein paar Gedanken zum Begriff “Toleranz” machen.
Über die bildliche Darstellung von Gewalt, fiktiv oder real, kann man monatelang debattieren. Hier genügt dies: Es gibt das, und die meisten MedienkonsumentInnen sind täglich damit konfrontiert.
Bleibt noch der “Missbrauch öffentlich-rechtlicher Infrastruktur” für private Zwecke. Hand aufs Herz: Wer jetzt mit der Gebührengelderkeule kommt, ist scheinheilig. Haben nicht auch alle, die von Steuer- oder Gebührengeldern bezahlt sind, schon mal einen Kuli mitlaufen lassen, im Büro mit der besten Freundin telefoniert, auf dem Geschäftscomputer das private Facebookprofil bearbeitet?
Von der Brutaliät des Streifens komplett abstrahiert: Das war offenbar ein Ausbildungsprojekt, ein Herum-Üben; der Typ hat die für ihn naheliegendste Gratis-Location gewählt und ein paar Kumpels haben mitgemacht, die dummerweise auch im kleinen schweizerischen Rampenlicht stehen. Das ganze passierte offensichtlich in einer Randstunde.
Von übersteigertem Gebrauch keine Spur, auch wenn man sie noch so gern daran aufhängen würde.
Saudumm ist primär, dass der private Übungsclip an die Öffentlichkeit kam und den Arbeitgeber in die Bredouille brachte. Das ist weder geschickt noch loyal. Doch inzwischen haben die Beteiligten und die Mediensprecher brav ihre Entschuldigungs- und Distanzierungssprüchli gesagt, welche unsere liebe Gesellschaft halt nach solchen Vorkommnissen erwartet.
Obschon die Kombination aus Drehort und Inhalt immens heikel ist: Im Zweifelsfalle werden für die Kunstfreiheit halt anderthalb Augen zugedrückt.
Ein Entlassungsgrund? Fraglich.
Eins auf den Deckel? Ganz sicher.
Was am Ende übrigbleiben wird: Kostenlose publicity für einen praktisch publikumsfreien Radiosender. Die nicht ganz so überraschende Erkenntnis, dass die coolen Geister der nächsten Generation, die man in einen bisweilen verkrusteten Betrieb rief, auch mal echt grossen Mist bauen, den wir alten Knochen nicht ganz nachvollziehen können.
Einmal mehr die Gewissheit, dass Geschmäcker verschieden sind und es manchmal viel geistige Verrenkung braucht, andere zu verstehen. Zum x-ten Male die Einsicht, dass vieles Private auch heute vielleicht doch lieber privat bleiben sollte. Die Tatsache, dass Robin Rehmann dringend Schauspielstunden nehmen sollte.
Aber vor allem ein Lehrstück von (irgendwo zwischen Affekt, Mit-dem-Skandal-Kokettier-Faktor, Naivität und Gedankenlosigkeit missglücktem) Social-Media-Gebrauch, den man in Netz-Kursen und Web-Workshops ausgezeichnet verwenden kann. Immerhin.