Am Freitag wirds im Gotthard-Basistunnel windig: Das Wetter kann nun die Abkürzung via Tunnel nehmen und muss nicht über die Berge reisen.
Aber was sind denn das für Berge? – Moritz Leuenberger wird den magischen Moment ziemlich genau 2500 Meter unter dem Piz Vatgira miterleben – mehr Fels gibts sonst auf der ganzen Strecke nirgends über den Tunnelröhren.
(Piz Vatgira aus Sedrun mit Gewitterwolken, Juli 2006)
(Nordwand des Piz Vatgira aus dem Heli, Juli 2003)
Der Vatgira – in etwa “Wad-Ji-Ra” ausgesprochen – ist eine 2983m hohe markante Pyramide im Val Nalps, zwischen Piz Gannaretsch und Piz Lai Blau gelegen. Es ist keine schwierige Kletterei bis zum Gipfel; vom Stausee Nalps sinds etwas mehr als tausend Höhenmeter. Allerdings sollten Turnschuhwanderer den Berg lieber in Ruhe lassen.
(Piz Vatgira aus dem Val Nalps, Sommer 1975)
(Piz Vatgira aus dem Val Nalps, November 2001)
Von meinem Sedruner Elternhaus aus sehen wir genau in die Nordwand des Vatgira, wunderschön eingeklemmt zwischen Cuolm Cavorgia und Tgom. Mein Vater hat 1982 einen Steinmann auf dem Gipfel gebaut, den ich mit dem Teleskop stets ehrfürchtig beobachtete. Ich habs leider nie rauf geschafft. Spätestens der Abstieg dürfte meine Knie endgültig ruinieren – aber eines Tages muss dass schon noch sein.
(Die frisch verschneite Pyramide aus Sedrun, April 1983)
(Piz Vatgira – rechts – vom Piz Gannaretsch aus gesehen, Juni 2003)
(Die andere Perspektive: Blick vom Vatgira-Gipfel nach Sedrun, Juli 2003)
Der Sedruner Dorfhistoriker Tarcisi Hendry hat für uns einige Recherchen angestellt. Der Name “Vatgira” steht für “die Fuhre” (romanisch vitgira, vom lateinischen vectura). Früher nannte man den Berg auch “Piz de la Vicira”, “de la Poza”, “Strimas neras” und “Davosglatschers”. Mehr rund um Tujetscher Flurnamen hier.
Es muss um 1790 gewesen sein, als Benediktinerpater Placidus a Spescha – Erstbesteiger zahlloser Bündner Oberländer Gipfel wie auch Badus und Oberalpstock – schrieb:
Begiebt man sich in das westnordliche Thal Rundadoira, so hat man in Verlauf von einer Stunde zwei Wege vor sich. Wendet man sich südwestlich, so kann man die Schlucht Boketa de Nalps erreichen und von dort aus den hohen Scals erklimmen und das Alpthal Nalps, ein Theil von Tawätsch u. s. w. übersehen. Wendet man sich aber nach Norden zwischen der Rondadoira und dem Stavlet und erreicht diese Zwischenschlucht, sieht man den Hintergrund des Alpthals Vicira, welcher mit Schnee und Eis und zwei kleinen Seen ausgefüllt und mit drei sehr hohen Bergen umgeben ist. Westlich kann man den Rundadoir, noch westlicher den piz Sceinamota und nordostlich den höchsten unter denen, nemlich den Vicir, ersteigen und von ihm aus den kürzem Weg durch das Thal Vicira zurücknehmmen. Auch diese zwei Reisen können in einem Tage wechselsweise zurückgelegt werden.
(Placidus a Spescha: Entdeckungsreisen am Rhein. Genaue geographische Darstellung aller Rheinquellen im Kanton Graubünden nebst der Beschreibung vieler Gebirgsreisen in dieser wenig besuchten und erforschten Alpenwelt. Edition und Einleitung von Ursula Scholian Izeti, Chronos 2005)
(Piz Gannaretsch und Piz Vatgira aus Cungieri, Juli 2005)
Die Pyramide hat nicht nur Placidus a Spescha fasziniert, sondern auch mich schon als Kind, war sie doch immer das erste, was ich sah, wenn ich in Sedrun am Morgen die Fensterläden öffnete: Bei Föhn war sie meist in Wolken gehüllt, im Herbst schon früh angezuckert, im Sommer schmückte sich der Vatgira gern mit Cumulonimbus-Blumenkohlwolken, im Frühling behielt er lange seine breiten Schneefelder. Schon auf einem der ersten Bilder von mir und meiner Tatta thront der Berg im Hintergrund…
Und wie klein und unscheinbar erscheint doch die Pyramide gegenüber dem mächtigen lustigen Holzhackerbuam…
Als ich mit zwölf den ersten Sekundarschulaufsatz schreiben musste, war das Thema schnell klar – der Piz Vatgira war das ideale Motiv, um die Schweizer Geschichte neu zu schreiben. Mehr dazu morgen in JacoBlök.
2 Kommentare