Vor 20 Jahren: Start zur grossen Reise

Heute vor 20 Jahren und 12 Tagen – es war der Pfingstmontag 1993 – riss mich der Radiowecker in aller Herrgottsfrühe aus einem reisefiebrigen, oberflächlichen Schlaf. Ich sehe noch heute die brutal rot leuchtende LED-Anzeige “04:45” vor mir.

Dazu lief “I’m Not in Love” von Ten CC, und zwar genau an diesem mystisch anmutenden Teil in der Mitte, wenn die Sekretärin des Aufnahmestudios “Big Boys Don’t Cry” säuselt. Ich sollte mich in den kommenden Tagen noch einige Male als “Small Boy” erweisen.

Der Song steht seither für den grossen Aufbruch aus dem Baselbiet nach Bern – ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein Riesensatz für einen Andi, mit einem Umweg von ein paar zehntausend Kilometern. Nebst dem damals brandneuen Rucksack, den ich extra für meinen Aufbruch ins Erwachsenenleben via USA, Kanada, Neuseeland und Australien gekauft hatte, ist es vor allem “I’m Not in Love”, das mich beim Ertönen unweigerlich in meine frühen Zwanziger zurück versetzt.

Der 31.5.1993 war ein Wendepunkt. Dabei war der Schritt in die grosse weite Welt nicht einmal sonderlich mutig – in den genannten Ländern herumgondeln kann nun wirklich jedes Kind. Mein damaliger bester Freund hatte zudem vorgemacht, wie es geht (die Mitbringsel seiner Reise z.B. von KIIS FM Los Angeles prägten zunächst das Programm von Radio Raurach, später auch die DRS3-Hitparade), und ich fand, das könnte ich eigentlich auch versuchen.

Aber wenn schon, dann so richtig lange – jetzt zwischen Schule und Studium hätte es das letzte Mal vor der Pensionierung sein können, dass ich genug Zeit und erst noch die angesparte Kohle meines Radiojobs und den stolzen Batzen meiner Sedruner Grossmutter hatte.

Besonders weit weg erscheint mir 1993 eigentlich nicht, ich erinnere mich lebhaft an viele Reiseszenen. Wenn ich heute aber im Tagebuch dieser Zeit blättere, werde ich vor allem einer Tatsache gewahr: Der Geist kann – zum Glück – sehr gut ausblenden und verdrängen. Bei so mancher Zeile, die ich seither nie mehr gelesen habe, reibe ich mir verwundert die Augen und bin froh, dass seitdem viele, viele Jahre ins Land gezogen sind.

Itingen und Sissach aus der Luft am Morgen des 31. Mai 1993 kurz nach dem Start in Kloten

Oben: Ein letzter Blick auf Itingen und Sissach auf dem Flug nach Paris, der ersten Zwischenstation

Plane change in IAD: Eine 747 im alten United-Look

Oben: Umsteigen in Washington – zum ersten Mal seit 11 Jahren hatte ich wieder einen anderen Kontinent betreten.

Mein Boarding Pass für den ersten Hopser über den Atlantik seit 1982Das vertraute Leben zwischen Itingen und Sedrun spuckte mich recht unsanft in Miami aus. Was war das für ein mulmiges Gefühl? Die grosse Freiheit vor dem Fenster, aber im Bauch ein Riesenkloss. Heimweh und Jetlag, genau! So fühlte sich das also an.

Ich hatte den Führerschein noch nicht mal eine Woche im Sack, der Respekt vor den amerikanischen Strassen war allerdings schnell weg – einfacher als hier kann man wirklich nicht in die tägliche Fahrpraxis einsteigen.

Den 87er Chevy Cavalier Station Wagon hatte ich über eine Agentur mit Sitz in der Schweiz erworben, mit Rückkaufgarantie in Los Angeles Mitte August 1993 – das war die günstigste Variante für so eine lange Zeit, allerdings war ich für die Rostbeule auch selbst verantwortlich. Sie sollte mir die nächsten 19’458 Kilometer bis Los Angeles noch so manche Improvisation abverlangen. Doch dazu später.

So übernahm ich also am Morgen des ersten Juni 1993 mein erstes und bis dato einziges eigenes Auto, Kennzeichen JLW 64M, registriert in Dade County, Florida. Und los ging’s Richtung Norden.

Mein Auto für die nächsten 10 Wochen, ein 87er Chevrolet Cavalier Station Wagon, dessen Klimaanlage kaputt war und auch schon über 100'000 Meilen auf dem Buckel hatte

Es gab damals wie schon erwähnt weder das Internet noch Handys – jedenfalls nicht in der heutigen Form. Telefonate nach Übersee waren sündhaft teuer und liefen meist als “Collect Calls” (die Angerufenen bezahlen) über einen Operator (“Vermittlung”), meinen Kommunikationstrieb befriedigte ich mit Tagebuch- und Briefeschreiben. Copy-Paste von Reiseberichten in E-Mails? Bloggen? Twittern? Fehlanzeige!

Die nächsten fünf Nächte konnte ich bei ungarischen Bekannten an der Atlantikküste Floridas verbringen. Das Dasein als Nachkomme von 1956er-Flüchtlingen hat einen grossen Vorteil: Überall auf der Welt sind Ungaren, die einen noch so gern bekochen. Hier allerdings trat bei der Dame des Hauses der Mutterinstinkt etwas gar fest zum Vorschein – sie fand es unerhört, dass meine Mutter mich monatelang alleine durch die Welt tingeln lässt.

Das sei – gerade angesichts der erschreckend hohen Kriminalitätsrate in den USA – grobfahrlässig, und ich würde das keinesfalls überleben, schon gar nicht mit so einer Schrottkarre, basta. Es brauchte einige Überredungskunst meiner ungarischen Grossmutter, die Jutka von Frau zu Frau überzeugte, dass sie mich getrost fahren lassen könne.

Kinoticket vom 5. Juni 1993 Immerhin, mit ihrem Nachwuchs – zwei äusserst attraktiven Schülerinnen erst noch – zog ich gerne plaudernd durch die Malls in West Palm Beach und liess mich in den Alltag einführen (links das Ticket meines ersten Kinobesuches, “Indecent Proposal” für sage und schreibe 3.75$). Das waren sie also, die Auto fahrenden Mädels mit dem Ami-Englisch aus “Beverly Hills 90210” – ich war entzückt.

Ich nutze die Reise auch, um einmal pro Woche Berichte für meine “Home Stations” Radio Raurach und Radio Unispital zu übermitteln, so zum Beispiel einen kleinen Hintergrundbeitrag zur F/A-18-Abstimmung in der Schweiz, die in meiner ersten Ferienwoche stattfand.

Ich legte den Fokus auf die darbenden Rüstungskonzerne, die sich über “some help from swiss voters” freuten, aber ansonsten unter der frischen Clinton-Präsidentschaft vor allem damit beschäftigt waren, ihre unter den Republikanern lange vernachlässigten Hausaufgaben zu machen und mehr Frauen, Schwarze und Latinos in die Teppichetage zu holen.

(Lieber in eigenem Player hören / herunterladen – MP3, 1.4 MB)

Tja, so tönten in einer Zeit vor dem Internet über analoge Leitungen durchgebrösmelte interkontinentale Telefonate! Ist das wirklich erst 20 Jahre her?

A propos Radio: Von den US-Radiostationen war ich natürlich vollkommen hingerissen. Bei der Musik gabs immer genug “Adult-Contemporary”- oder “Classic-Rock”-Sender, die famose alte Klassiker brachten, die bei uns nirgends liefen, hart gefahren, durchchoreographiert bis zum Letzten. Spätestens jetzt hatte ich begriffen, warum Jean-Luc seit seiner US-Reise so anders tönte am Sender.

Und früh entdeckte ich NPR (“National Public Radio”) mit dem Klassiker “All Things Considered” – Robert Siegel wurde schnell mein grosses News-Vorbild.

Auch wie die Amis Fernsehen machten, zum Beispiel das Modell der grossen Ketten mit lokalen Ablegern, fand ich als Jungschurni hochinteressant. Und dass es zig Kanäle zu nur einem Thema gab, war mir vollends neu. Auch, dass man auf dem “Weather Channel” auf einem so genannten “Radarbild” die Niederschlagszonen quasi live verfolgen konnte… faszinierend – sowas hatte ich zuvor nie gesehen.

So langsam wagte ich mich ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten hinaus und schätzte es rasch, wie offen die Amerikanerinnen und Amerikaner waren. Oberflächlich, wie man mich vorgewarnt hatte? – Vielleicht. Aber die vielen kurzen Smalltalks mit völlig Unbekannten fand ich famos, das kannte ich so nicht.

Nebst der Meteorologie und den Medien faszinierte mich als Kind vor allem die Raumfahrt, und wenn ich schon mal hier war, musste ich natürlich kurz nach Cape Canaveral. Am 4. Juni war es so weit – ich konnte im Triebwerk einer Saturn V stehen und das Space Shuttle live auf der Startrampe beobachten. STS-57 startete zwei Wochen nach meinem Besuch – jammerschade, denn das eigentliche Startdatum der Endeavour wäre der 3. Juni gewesen.

Cape Canaveral, 4.6.1993

Eintrittsticket für das Kennedy Space Center am 4. Juni 1993

Die Endeavour auf der Startrampe, 4. Juni 1993

Auf der Fahrt in Raumfahrtzentrum musste ich zum ersten Mal im Leben alleine Tanken. Dass man in den USA oftmals zuerst irgend einen Hebel an der Zapfsäule betätigen muss, bevor das Benzin sprudelt, lernte ich dank der gütigen Hilfe eines grumpy old gas station man.

Damals kostete eine Gallone sagenhafte 1.29$ – in Georgia tankte ich später aber auch für 79 cent pro Gallone, damals rund 30 Rappen pro Liter.

Das erste Mal... tanken: Für 11.47 Dollar am 4. Juni 1993 in Palm Bay, Florida

Nun war ich auf mich alleine gestellt – ich wusste nur, dass ich am 20. Juni in New York sein musste. Für unterwegs kaufte ich mir – dem damaligen Budget entsprechend – eine Styropor-Kühlbox und etwas Eis (die Box überlebte 10 Wochen on the road übrigens problemlos mit sehr viel Klebebandeinsatz). Ich durfte nicht mehr als 30 Dollar pro Tag ausgeben und führte akribisch Buch – wusste aber schon bald, dass ich von irgend jemandem eine Defizitgarantie benötigen würde.

Einkaufszettel von irgendwo in Florida, 10.6.1993

Nach zwei Pärken der übleren Sorte um Orlando (machte man halt damals so – immerhin berührte ich im Epcot Center den ersten Touchscreen meines Lebens, stellte mich aber recht doof an und suchte anfangs die Knöpfe) lebte ich vor allem als Fahrender. Als Highwayman light sozusagen.

Im Zeitalter vor den Navigationsgeräten war der “Rand McNally Road Atlas” das Mass aller Dinge – wenn ich halbwegs wusste, wohin es an einem Tag gehen sollte, schrieb ich mir zudem die Strecke auf einen Zettel. Das Fahren à l’americaine nach Interstate-Nummern, Himmelsrichtungen und Exit Numbers gefiel mir, das erschien mir praktisch.

Strassen-Fahrplan à la USA 1993

Am 10. Juni erreichte ich St. Augustine, der Tagebucheintrag beginnt mit “Scheiss Klimaanlage, ächz, schwitz – ich würde gerne schlafen, unmöglich bei dieser feuchten Hitze.” Der Ort ist die älteste durchgehend besiedelte Stadt der USA, die von Europäern gegründet wurde (1565). So gab es hier allerlei alten Kram zu bewundern, zum Beispiel die Zuckermühle:

Sugar Mill, St Augustine, 11. Juni 1993

Dem Tagebuch ist zu entnehmen, dass ich mich zu Beginn der zweiten US-Woche langsam an die Alltagssprache angewöhnte: “See ya” statt einfach “Bye”, “Sure” statt “Yes”, “s’cuse me” statt “Sorry” – sichtlich stolz versuchte sich der Jüngling an die lokalen Sitten und Gebräuche anzupassen.

Was nicht immer gelang: Diese wundersamen Zeichen @ und # waren mir zum Beispiel völlig unbekannt, und ich musste zunächst mal ein Gefühl für das Kauderwelsch entwickeln, das allein schon einem Motel-Verzeichnis entsprang: das “at” wurde damals im Alltag erst verwendet, um Orte oder Strassen zu bezeichnen, “turn right @52nd” zum Beispiel. Dass diese komische Abkürzung “A/C” für die Klimaanlage steht und dass man dem Gartenhag “pound sign” sagt, erschloss sich mir erst nadisna.

Die zu Country-Klängen singenden Angestellten in den billigen Beizen am Strassenrand, die mich geradezu mütterlich behandelten, fand ich süss. Das unablässige Zitieren von “Call 1-800-BLABLA now to get your FREE… yes, it’s FREE” war faszinierend und lächerlich zugleich. Da kam der deutsche Journalist, mit dem ich im Whirlpool der EconoLodge endlich wieder einmal ein normales, tiefschürfendes Gespräch führen konnte, gerade recht – die direkte, intensive Kommunikation schien mir dann doch irgendwie zu fehlen.

Das ist zwischen den Zeilen immer wieder zu lesen: Selbst in einem Land wie den USA war man damals psychologisch viel weiter weg von daheim als heute. Kein Mail, kein Instant Messaging, keine sofort digital vorhandenen und verschickbaren Bilder – diese damals vor allem am Anfang der Reise gar grosse Einsamkeit würde ich mir heute beinahe wieder herbei sehnen.

Im nächsten Teil dieser Serie verrate ich unter anderem, wo “Little Switzerland” liegt und was Dolly Parton in der Nähe zu schaffen hat.

5 Kommentare

  1. Ha ha Mag Deinen Artikel.

    Ich war nach 1991 im ’95 zum 2. Mal in USA. Eigentlich meist in Kanada zwecks Sprache lernen.
    Danach aber noch rumgereist.

    Dort in Vancouver wurde ich zum ersten Mal mit den komischen Web Adressen konfrontiert auf der hintersten Seite der gratis Pendler Zeitungen(auch das gab’s da schon), welche die Vancouverianer nach dem lesen schön brav in die Kisten neben dem Ausgang der Fähre legten.

    Auch spielte mein Gastvater ein Spiel namens Doom.
    Die hatten dort gratis Internet via Telefonmodem, weil wohl damals das modernste Telecomnetz vorhanden war.
    Für mich alles neu und auch noch ein wenig undurchsichtig.

    Mein Gastvater hat mich dann schon mal hoch genommen, ob wir denn in Europa schon Kühlschränke hätten 🙂

    Im Gegensatz zum ersten Aufenthalt konnte man damals übrigens sehr günstig mit Telefonkarten (80Rp/min) in die Schweiz telefonieren.

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