Etwas vom wenigen, was ich aus dem gymnasialen Geographieunterricht in die nackte Realität retten konnte, waren die Great Smoky Mountains. Eine Mitschülerin hatte wenige Jahre zuvor ein Referat über die Appalachen und die “Smokies” gehalten.
Also sagte ich mir im Juni 1993: Wenn ich schon mal zwischen Florida und New York unterwegs bin, schaue ich mir die Sache mal aus der Nähe an.
(Dies ist der zweite Teil eines Rückblicks auf meine erste “grosse Reise” vor 20 Jahren, Teil eins ist hier zu lesen.)
Zunächst führte die Route aber an Atlanta vorbei – da musste der Jungschurni natürlich bei CNN vorbeischauen. Spätestens seit dem ersten Golfkrieg blickten wir alle auf den Sender, und in den USA gefiel mir das Konzept von “Headline News”.
Von der I-95 gings also rüber zur I-75 – irgendwo war dann auch noch die Abzweigung nach Athens, wo REM herkommen, die damals ganz gross waren. Einigermassen ehrfürchtig fuhr ich also “Losing my Religion” singend über die Interstates im Niemandsland von Georgia und tankte irgendwo auf dem Land draussen zum vermutlich ewigen Benzintiefstpreis meines ganzen Lebens: 79 cent pro Gallone, damals rund 30 Rappen pro Liter.
Bei CNN dann die Ernüchterung: Die Studiotour war ausverkauft. Also gabs nur ein sehnsüchtiges Foto vom Eingang…
… und einen Spontanbesuch bei 104.7 WALR. Die Discjockeys waren immer sehr locker, wenn man sich als Radiöler aus einem fernen Land zu erkennen gab, und gaben bereitwillig Auskunft. Im Tagebuch gab ich mich beeindruckt: “Die haben hier die selben Studer-Spulenmaschinen wie wir. Aber sie machen sonst fast alles mit Carts. Wahnsinn, 5 Sekunden vor dem Ende eines Jingles blinkt eine Lampe! Die spielen bis zu 20 in Folge. Wo nimmt der Moderator bloss diese unendliche Coolheit in seiner Stimme her?”
Am Abend landete ich dann spontan in Asheville, North Carolina – Liebe auf den ersten Blick. Irgendwie fühlte ich mich hier auf Anhieb wohl, vielleicht weil es nun etwas gebirgiger wurde und die Menschen etwas “alternativer”, jedenfalls verblasste das Heimweh in der dritten Reisewoche immer mehr.
Natürlich besass auch Asheville seine Mall – das mir völlig neue Konzept von Einkaufstempeln faszinierte mich ebenso wie die über der Strasse hängenden Ampeln:
In dieser Woche lief der Film des Jahres an – damals feierten die grossen Streifen in den USA noch Monate vor Europa Premiere, und so war ich umso stolzer, “Jurassic Park” (begleitet von einem nie dagewesenen Merchandise- und Marketinghype) bereits am 13. Juni 1993 gesehen zu haben (Ticket rechts), einen Tag vor meinem 21. Geburtstag, den ich einsam in den Great Smoky Mountains feierte.
Spielbergs Dino-Epos war wohl der erste Film, in dem man das Gefühl hatte, das könnte wirklich echt sein; die Computertechnik machte in dieser Zeit enorme Fortschritte – am Anfang stand das flüssige Metall in “Terminator 2”.
Nach all den Computer-Spezialeffekten im Kino lechzte ich aber nach Natur. Im nahen Cherokee (nomen est omen, voller Indianerkitsch) gönnte ich mir eine Fahrt auf einem alten, ratternden Sessellift…
… und wanderte über Hügel, die irgendwie auch im Jura hätten stehen können:
Auf dem Gipfel schrieb ich ins Tagebuch (heute würde ich bestensfalls 140 Zeichen und ein gepimptes Foto Twittern): “Gediegen, ich sitze auf einer Felsnadel auf etwa 1800m, nach einer etwas haarsträubenden Kletterei, und geniesse die Aussicht. Die Chimney Tops steigen aus einem dicht bewaldeten Hügel auf, einem Urwald gleich – ich glaube, ich habe noch nie einen so dichten Mischwald gesehen. Auf dem Parkplatz des Clingmans Dome traf ich Andrea, eine Studentin aus Indiana, die den Schlüssel im Kofferraum eingeschlossen hatte und schon früh im Gespräch betonte, sie wolle einmal Präsidentin werden – das nennt man Ambitionen. Langsam hat es mir hier oben zu viele Squirrels, und diese komischen Schmerzen im Becken werden wieder stärker, ich sollte an den Abstieg denken. Ich musste eine dieser Tabletten nehmen, die mir Hans für Notfälle mitgegeben hat.”
Dass das von einem Morbus Bechterew herrührte und dies den Rest meines medizinischen Lebens prägen würde, sollte ich erst zwei Jahre später erfahren.
Später begann es zu regnen, und die Fahrt auf dem Blue Ridge Parkway war mir ohnehin etwas zu kurvig, so landete ich in Gatlinburg, einem ziemlich schrecklichen Retortenort in Tennessee, in dessen Umgebung unter anderem Dolly Partons “Amusement Park” Dollywood liegt.
Dass auch ein “Ober Gatlinburg” samt Skigebiet und einer stattlichen Gondel existiert, entging mir leider – das hätte den Lifthistoriker allenfalls noch milde stimmen können.
Auf dem Weg nach Norden landete ich auch in Little Switzerland, North Carolina – tatsächlich sieht es in den Appalachen und vor allem in den Blue Ridge Mountains (John Denver lässt grüssen) sehr oft aus wie in der Schweiz. Natürlich waren die Amis begeistert, dass endlich wieder einmal einer als “Big Switzerland” vorbeischaut – der Pöstler stempelte mir sogar bereitwillig ins Tagebuch:
Auf der Postkarte des Ortes mit einem doch sehr zu einer Reise hierher animierenden Sujet…
… war zu meiner Überraschung genau mein weisser Chevy Cavalier Station Wagon abgebildet, der mir doch schon so sehr ans Herz gewachsen war, dass er sogar als exklusives Sujet für ein Foto in Frage kam – in den Zeiten vor der Digitalfotografie knipste man noch sehr sparsam; alle Bilder von dieser Reise sind Ektachrome-Dia-Scans.
Nach den Tagen in den Hügeln dürstete es mich wieder nach kurvenfreier Interstate-Fahrerei samt Musikhören und Fast Food aus dem Drive Thru, zudem war das Wetter in den Appalachen durchzogen – schon bald bestimmten solche Bilder wieder den Tagesablauf:
Und sonst? In den News herrschte langsam aber sicher Sommerflaute, für Schlagzeilen sorgte allenfalls eine wie immer völlig übertriebene Panikwelle, weil angeblich jemand eine Spritze in einer Pepsidose gefunden hatte, wie ich in der Folgewoche aus New York für meine Heimradiostationen berichtete:
(Lieber in eigenem Player hören / herunterladen – MP3, 1.6 MB) |
Ja, heute lacht man drüber – doch in den Prä-Web-Zeiten war das noch etwas ganz Besonderes, so ein Report aus Übersee – und erst noch von mitten auf der Strasse. Boah.
So ganz geheuer war es mir beim Gedanken aber nicht, erstmals alleine in den Grossstadtdschungel einer Weltstadt abzutauchen.
Am 18. Juni 1993 notierte ich in Wilmington, Delaware: “Ah, Alien 3 kommt auf HBO, das passt perfekt – denn ich stehe vor den Toren des ungewissen Monsters NEW YORK.”