Die Schweiz mokiert sich seit letzter Woche über den Sprachleitfaden “Geschlechtergerecht formulieren” der Berner Stadtverwaltung.
Zeit für einen Kontrapunkt.
Angefangen mit einer kleinen Geschichte.
Ein Vater fährt mit seinem Sohn im Auto zum Fussballspiel. Mitten auf einem Bahnübergang stirbt ihm der Motor ab. Aus der Ferne hören die beiden das Tuten des heranrasenden Zuges.
Verzweifelt versucht der Vater, den Wagen wieder in Gang zu bringen, vergisst aber in seiner Aufregung, zuerst den Zündschlüssel zurückzudrehen. Das Auto wird vom Zug erfasst und mitgeschleift. Ein Krankenwagen eilt zum Unfallort.
Noch auf der Fahrt ins Krankenhaus stirbt der Vater. Der Sohn wird in kritischem Zustand in die chirurgische Ambulanz eingeliefert, nur eine sofortige rasche Operation kann ihn retten.
Die diensthabenden Chirurgen betreten den OP in Erwartung eines Routinefalles.Beim Anblick des Jungen stammelt jedoch jemand aus dem Chirurgenteam. “Ich kann nicht operieren – das ist mein Sohn!”
Frage: Wer ist dieser Chirurg?
Mit diesem Rätsel haben wir in unseren journalistischen Basiskursen jeweils den kurzen Teil “Sprache und Bewusstsein” eingeleitet. Frauen sollen also in den männlichen Bezeichnungen mitgemeint sein? Pustekuchen!
Gefolgt ist einigen Tipps zum geschlechtergerechten Formulierungen – entnommen mitunter ebensolchen Leitfäden, auf die sich der Pöbel nun eingeschossen hat – meist eine lebhafte Diskussion über Sinn und Unsinn des geschlechtsneutralen Formulierens.
Viele sagten nach der Übung, in der es darum ging, einen Text umzuschreiben: “Hm, das ist ja ganz einfach – und oft lassen sich einige Zeichen sparen, was in einem journalistischen Text wichtig ist. Mit Zebrastreifen statt Fussgängerstreifen spare ich immerhin fünf Anschläge.”
Ich ärgere mich täglich über Frauen, die sich vollkommen gedankenlos als “Coiffeur”, “Arzt” oder “Anwalt” bezeichnen. Für diese Damen habe ich primär Verachtung übrig – nicht nur für ihr mangelndes Sprachgefühl.
Ich nenne mich ja auch nicht “Bloggerin” oder “Webpublisheuse”. Ich bin ein Mann, Mann!
Neo-Grossrätin Philipp Müller oder Bald-Ex-Fraktionschefin Erich Hess sollen sich doch bitte auf etwas anderes konzentrieren als den Sprachleitfaden zum Vorwand zu nehmen, die “Gleichstellerei” endlich abzuschaffen, was sie seit Jahren am liebsten tun würden.
Herr Müller, Sie haben in Sachen Sozialhilfe auch für mich als Linken wichtige Fragen gestellt, haben sich getraut, “eklig z’tüe”, dem rotgrünen Filz, der mir auch nicht immer so ganz behagt, etwas einzuheizen – dafür bin ich Ihnen dankbar. Leider diskreditieren Sie sich mit Ihrem Feldzug gegen die Gleichstellungsfachstelle nun gleich komplett. Wie entlarvend! Offenbar waren Ihre Beweggründe doch nicht so edel, wie man hätte glauben können. Schade.
Ich kenne viele Organisationen und Verwaltungen, die seit Jahren, teils gar Jahrzehnten solche Sprachleitfäden besitzen. Das ist etwas völlig Normales – drum ist die künstliche Aufregung fehl am Platz.
Jedenfalls sind die Sprachmanuals hundertmal nützlicher als irgendwelche sinnlosen Leitbilder (die in den letzten Jahren ebenso aufkamen wie die birnenweiche Zertifizitis), in denen es von Allgemeinplätzen und Selbstverständlichkeiten wimmelt. Hess und Müller, daher! Hier können Sie gern ansetzen!
Vermutlich haben diese in den Schubladen vermodernden Papiertiger mehr gekostet als die Sprachleitfäden, die einem doch den einen oder anderen nützlichen Denkanstoss geben und dank derer sich womöglich manch einer überlegt hat, wie Sprache wirken kann – und womöglich gar eine gewisse Kreativität entwickelt hat, Klippen zu umschiffen.
Genau: Manch “einer”. Ich hätte an dieser Stelle niemals “manch einer und eine haben sich” geschrieben, wie es geschlechtsneutral heissen müsste. Ich bin der Ansicht, dass der Versuch, neutral zu formulieren, nicht gänzlich auf Kosten von Stil, Satzkomplexität und Eleganz gehen darf.
Sprache macht Spass. Ich postuliere einen einigermassen lockeren Umgang mit dem Thema “nicht diskriminierende Sprache”; weder verbissen überkonsequent noch radikal ablehnend.
Texte mit ausschliesslich femininen Formen (z.B. in der WOZ) sind eine amüsante Sache – kann man machen, why not! Ich bin zudem – sofern es keine gleichwertigen, eleganten “Ersatzwörter” gibt oder keine Doppelformen (“Besucherinnen und Besucher”) erträgt – ein alter Freund der “-Innen”-Form. Sie ist kurz und einfach zu handhaben (und erinnert mich auch an meine Gymer-Zeit, als ich unseren stockkonservativen Deutschlehrer mit solchen Formen immer herrlich nerven konnte), dennoch gebrauche ich sie nur inkonsequent, besonders schön finde ich sie nicht.
Ich bin alles andere als ein Radikalfeminist, ja, himmelherrgöttin, ich reisse sogar gerne mal einen sexistischen Witz, wie grauenvoll! Aber das verbietet mir nicht, festzustellen, dass Alltagssprache durchaus für einige Menschen diskriminierend sein kann und mir zu überlegen, wie man das umgehen könnte, ohne die Sprache zu vergewaltigen.
Und in Internet-Bildbearbeitungskursen darauf hinzuweisen, dass das Merkmal eines guten Bildes auch ist, keine längst überholten Geschlechterrollen zu zementieren (Manager mit Krawatte kommt abends in die Küche, wo die Hausfrau am Kochen ist).
Die unreflektierte Beinahe-Hetze, die seit der vergangenen Woche stattfindet, ist zum Kotzen. Ebenso wie wahrhaftig hässliche und inkonsistente Schöpfungen wie “Mitgliederinnen” oder “Landsmännin”, die einige Übereifrige tatsächlich ab und zu verwenden – und damit leider bewirken, dass weite Bevölkerungskreise sich womöglich nicht ganz unberechtigt an die Stirn tippen.
Eventuell hat die Fachstelle für Gleichstellung einige Formulierungen auch nicht ganz überdacht: “Team” statt “Mannschaft”? – Englisch als Ersatz für Sexismus gefällt auf Deutsch auch nicht wirklich. Und ob man dem im Volksmund ohnehin “MAG” genannten “Mitarbeitergespräch” nun unbedingt “Beurteilungsgespräch” sagen soll? Letzteres Wort hat eine klar andere Färbung, hier geht es weniger um Diskurs als um Kritik.
Trotzdem – der öffentliche Aufruhr bzw. das kollektive sich-lustig-Machen über den Sprachleitfaden zeigen: Erstens – as always – wie unreflektiert (man könnte auch einfach sagen: dumm) grosse Teile der Menschheit sind. Wie derb und gedankenlos man sich teils auf den Sprachleitfaden gestürzt hat, macht mir Angst (wer oder was wird als nächstes in die Pfanne gehauen?).
Zweitens, wie schnell man heutzutage einen auf “ich lasse mir den Mund nicht verbieten” macht anstatt dass man den Denkanstoss aufnimmt, den Kopf schräg hält und sich überlegt, ob das eventuell was Interessantes wäre.
Drittens aber vor allem, wie sehr das Sprachgefühl in der Bevölkerung schwindet.
Dass ausgerechnet bei der auf Legasthenie und Sprachverluderung spezialisierten Tagi-/Newsnetz-Website eine rekordverdächtige Anzahl Kommentare zum Thema hinterlassen wird, lässt tief blicken.
Naja ich verstehe wiederum nicht warum man sich überhaupt über diese Geschichte so aufregen kann. Egal ob dafür oder dagegen.
Meiner Meinung nach gäbe es einfach wichtigeres an welchem ich meine Volksvertreter arbeiten sehen möchte im Moment, oder haben wir keine anderen Probleme?
Anyway ich finde: Nur nicht aufregen
Danke für diesen Artikel.
Ich hab mich auch sehr geärgert über das hämische Gelächter all jener, die sich nicht mal die Mühe gemacht haben, diese Broschüre anzuschauen.
Sie ist ja vor allem auch für den verwaltungsinternen Gebrauch gedacht.
Dass dieses Thema 2010 noch immer so die Gmüter erhitzen kann wie in den 8er und 90er Jahren lässt tief blicken.
Aber eben, der Fehler war wohl, dass man 2010 wieder mit einem typischen 80er/90er Jahr Thema kommt.
Naja, den Leitfaden gabs schon lange – man machte einfach eine Neuauflage, und die wird nun in der Luft zerrissen.
Mich schockiert zutiefst (darum auch meine teils etwas bewusst rüde Sprache), wie man teils primitivst auf diesen Leitfaden losgeht, alsob er das ewiggestrigfeministischste Pamphlet dieses Planeten wäre. Dabei ists einfach – wie Du auch antönst – eine nützliche, kurze, attraktiv gestaltete Sammlung von Tipps.
@Jean-Claude: Angst macht mir eben vor allem die stellenweise respektlose Art, wie man den Leitfaden zerreisst – es geht, auch wenn das nun leicht überzogen ist – ein wenig in die Richtung “Frauen, Neger, Juden, was wollt ihr eigentlich?” – Und sowas macht mir nicht nur Stirnrunzeln.
Bin ich froh, höre ich auch mal eine Gegenmeinung. In der BZ wimmelt es nur so von empörten Leserbriefen über den Sprachleitfaden. Da kommt dann immer wieder das alte Totschlägerargument: “Es gibt doch viel drängendere Probleme.” Vielleicht, aber was ist an einem Denkanstoss auszusetzen? Ich finde es schrecklich, wie viele Leute sich nicht bewusst sind, dass unsere Sprache nicht nur die Realität abbildet, sondern sie auch formt.
sehr schön…! da bin ich ganz einverstanden damit. Ist halt ein gäbiges Thema, bei dem man als Journi mal wieder so richtig vom Leder ziehen und sich grosser Zustimmung sicher sein kann. Eine Riesenempörung und hunderte von Online-Kommentateusen und -oren, die gerne mitspotten und mitausrufen…. wegen gerade mal 7’500 Staatsfranken.
Bravo, danke und Chapeau für Deine Analyse. Ich glaube, das ist der zweite Kommentar, den ich gelesen habe, der den Berner Leitfaden verteidigt (der erste Kommentar stammt von mir). Die antifeministische Hysterie, mit der der Leitfaden im Blick und andernorts kommentiert wurde, erstaunt mich sehr. Leider gehen einige Kommentatoren ziemlich unfair vor: So schrieb der Bugsierer in seinem Blog, im Leitfaden stehe das Wort Elter… obwohl dieses Wort im Berner Leitfaden gar nicht vorkommt.
Es gibt noch einen, hier.
Wie der Bugsierer nimmt sich kaum jemand die Mühe, den (oder einen anderen) Leitfaden runterzuladen und anzuschauen. Es wird sehr viel Unsinn dazu erfunden, um das ganze möglichst zu dramatisieren.