Die Gewerkschaften klönen, die Kirche jammert – man könnte meinen, am 27. November würde über den Fortbestand dieser unserer Gesellschaft abgestimmt. Dabei geht es einzig um die Frage, ob wir weiterhin an grösseren Bahnhöfen und Flughäfen am Sonntag einkaufen dürfen. – Wieso eigentlich nur dort? Und wieso nur am Sonntag?
Leicht irritiert denke ich an Zeiten zurück, in denen es in Bern nicht möglich war, schnell mal nach 19 Uhr oder am Wochenende am HB einzukaufen. Das Leben ist seither definitiv einfacher. Als alter Linker konstatiere ich wieder einmal, dass die zeternden Gewerkschaften tendenziell nerven und sich in vielen Gebieten konservativer gebärden als SVP und Konsorten bzw. sich mit ihren aktuellen Werbekampagnen auf dieses Niveau begeben. Was soll dieses Klammern an überholten Traditionen? Mir als Linksgrünliberaler stossen diese mühsamen Bevormundungs- und Zeitzurückdrehversuche mehr als sauer auf.
Die Gewerkschaften könnten sich – statt vorab junge, fortschrittliche Kreise zu verärgern – zum Beispiel darum kümmern, dass ich einen Lohnzuschlag bekomme, wenn ich an vier Sonntagen in Jahr für meinen Arbeitgeber kantonale Wahl- und Abstimmungsresultate aufs Netz schalte. – Aber: Leute, ich bin an sowas gar nicht interessiert – also spart euch die Mühe. So ein Zuschlag wäre gar ungerecht, zumal ich ja genau die selbe Arbeitsleistung erbringe, ob ich sie jetzt morgens um zwei, am Samstagmittag oder am Sonntagmorgen mache. Wieso sollte ich mehr Geld dafür wollen? Ich habe ja eine gesetzlich festgelegte Obergrenze der gesamten Arbeitszeit und empfinde es im Gegenteil als Privileg, dass ich vielfach dann arbeiten kann, wann ich will. Und so auch an einem Dienstag von einem Bergspitz winken kann, während die meisten arbeiten (siehe Bild von gestern Nachmittag). Ich wehre mich nicht partout gegen solche Lohnzuschläge, frage mich aber ernsthaft, ob sie im Jahre 2005 nicht überholt sind. Und unsozial: Wer die Möglichkeit hat, sonntags zu arbeiten, kann sich dumm und dämlich verdienen – wer nicht kann oder will, het gha.
Natürlich habe ich als kinderloser 50/50-Angestellter/Freelancer mit Einzimmerwohnung gut reden. Ich sehe aber bei Familien in meinem Freundeskreis – und habe es als Kind selbst erlebt -, dass es keine Katastrophe ist, wenn Mami mal am Abend länger im Büro bleibt oder Papa am Wochenende weg ist. Im Gegenteil. Auch hier propagiert die unheilige Allianz aus Kirchenkreisen und vielen konservativen Linken ein Gesellschaftsbild, das aus der Zeit stammt, als H.G. Wells seine “Zeitmaschine” verfasste. Schade, dass uns ausgerechnet Leute, die sonst tendenziell sympa sind (ich bin selbst Mitglied einer Gewerkschaft), mit so einem Gerät in jene Zeit zurückkatapultieren möchten.
Wann setzt sich die Gewerkschaft dafür ein, dass auch Spitäler und Heime am Sonntag geschlossen bleiben?
Die Gegner der Vorlage wollen uns einmal mehr weismachen, dass die Bevölkerung nur aus Verkaufspersonal besteht und ausschliesslich dem Hedonismus frönende Spätpubertierende am Wochenende oder abends einkaufen möchten. Sind diese Leute einmal am Samstagabend oder Sonntagnachmittag im Berner Bahnhof gewesen? Warum hält gerade die Kirche bei Themen, bei denen sie den nötigen Draht zur Gesellschaft eh nicht besitzt, nicht einfach den Mund und kümmert sich um interne Probleme wie Sabo & Co.? Da hätte gerade die katholische Kirche weiss Gott einige Jahrzehnte genug mit sich selbst zu tun.
Und überhaupt, wieso gehts in dieser Vorlage nur um Bahnhöfe und Flughäfen und nur um den Sonntag? Am Bahnhof einkaufen ist ganz nett – aber wieso haben Coop und Migros dort nur bis 21 Uhr offen? Und wieso kann ich nicht auch in der Kramgasse auf dem Heimweg vom Kino noch schnell Milch kaufen? Weg mit regulierten Ladenöffnungszeiten und Lohnzuschlägen – lieber mehr Grundlohn für alle. Alles andere ist ein Affront jenen gegenüber, die längst nicht mehr leben wie zu Grossmutters Zeiten.
Es geht eben nicht (nur) um den Fortbestand der jetzigen Situation. Man wird auch bei einer Ablehnung weiterhin am Sonntag in Bahnhofsnähe das einkaufen können, was der/die Reisende alles so gebrauchen kann (Verpflegung, Lektüre etc.). Bei Zustimmung können die Geschäfte am Sonntag alles verkaufen (Kühlschränke, Versicherungen, was weiss ich noch alles). Die kleinen Familienbetriebe können (zumindest in Basel) jetzt schon ihre Öffnungszeiten selbst bestimmen. “Mein” leider unterdessen geschlossener Inder im Quartier hatte 365 Tage (!) im Jahr von 10.00-22.00 offen. Und auch die Tankstellen-Shops sollen nicht vergessen werden.
Und warum ist es schlimm, wenn man am Sonntag Kühlschränke einkaufen könnte? Ich muss jedesmal schmunzeln, wenn die Zeterer dieses Beispiel bringen – auf welchem Planeten leben die? Tönt jeweils etwa so lächerlich wie “ooh, ums Himmels willen, dann wird am Sonntag die Luft aus Sauerstoff und Stickstoff bestehen!!! Wehret den Anfängen!” Diese Leute sollen doch lieber in die SVP oder SD, da sind sie gut aufgehoben. Wer um Mitternacht oder am Sonntag Kühlschränke kaufen will, soll das auch können. Doch mal ehrlich: Das wird fast niemand wollen und drum auch niemand anbieten. Also – wo ist das Problem?
Es geht bei den Kühlschränken nur darum, aufzuzeigen, dass es eben nicht nur um die Wahrung des jetzigen Zustandes geht. Ob es sinnvoll und gesellschaftlich wünschenswert ist, dass man auch am Sonntag allen möglichen Krempel und Dienstleistungen kaufen kann, darüber kann man sich trefflich streiten.
Ich behaupte, man kann aus arbeitsschutzrechtlichen Gründen durchaus für ein strenges Sonntagsarbeitsverbot sein. Ob man damit in der unterdessen sehr liberalen SVP (die für ein “Ja” votiert) richtig aufgehoben ist, wage ich zu bezweifeln.
Ich behaupte jetzt mal kühn, dass es vor allem “fuuli Sieche” sind, die ihren Besitzstand wahren und sich nicht umgewöhnen wollen: “Ich hab am Sonntag nie gearbeitet, also werde ich das auch nie, bääh! Immer dieses moderne Zeugs da, brauchen wir nicht.” – So eine Haltung finde ich schon ziemlich schlaff und rückwärtsgerichtet. Wenn ich die alten Gewerkschafts-Haudegen so sehe, die noch den Geist der 1970er Jahre leben, kommt mir das genau mehr so vor.
Arbeitnehmerschutz ist gut und nötig, wenn damit sinnvolle Leitplanken gesetzt werden. Ich finde es aber birnenweich, wenn mich z.B. mein Arbeitgeber zwingt, eine halbe Stunde Mittagspause zu machen (und das Zeiterfassungssystem diese 30 Minuten sogar automatisch abzieht!), obwohl ich das vielleicht gar nicht will. Das ist nur eines: Bevormundend. Lasst mich doch unvernünftig sein – das ist alleine mein Bier! Viel lieber wäre es mir, wenn die Teuerung jedes Jahr gewährt würde, die Löhne allgemein etwas angehoben (den Bonus-Unfug der Banken könnte man auch gleich gerne gesetzlich unterbinden) und die Obersuperverdiener härter besteuert würden, dafür andere weniger.
Es gibt offenkundig auch genug Leute, die nachts und am Weekend arbeiten wollen (aber dann bitte ohne Nacht- und Sonntagszuschläge – sonst sind diejenigen benachteiligt, die das nicht können). Wenn “Arbeitnehmerschutz” heisst “sorry, ihr dürft das nicht, es ist nicht gut für euch” – guet Nacht am sächsi! Ich bin wie erwähnt auch teilweise selbständig erwerbend – wenn ich meine Aufträge streng nach “Mo-Fr 8-12 / 13-17” abwickeln würde, hätte ich schon lange keine Kunden mehr.
lieber blöker, da muss ich nun mal aber auch dem gebsn recht geben: ich zweifle auch daran, ob es denn sinnvoll ist, aus einem sonntag einen normalen werkttag zu machen. ich finde es gibt da diverse gründe dagegen:
– ich fände es gesellschaftlich subotptimal, wenn man den sonntag zum schnöden werktag erklären würde. einen tag arbeitsfrei, dass ist ja schon familientechnisch sehr gesund.
– warum soll es plötzlich besser sein, wenn man auch werktags bis 21 uhr am bahnhof einkaufen kann und sonntags ebenfalls? sehe ich jetzt nicht so ganz ein, und zeugt höchstens von fehlendem zeitmanagement, wenn das einem zu mehr lebensqualität verhelfen soll.
– wer profitiert denn von sonntagsöffnungszeiten: blökers (also sinkies [single income, no kids]), und wer müsste dann am sonntag arbeiten? wohl eher die working poor (pimkies [poor income, many kids]).
Aber… lest doch mal genau, was ich geschrieben habe und was man sonst so liest – nochmals: Es gibt genügend Leute, die noch so gerne nachts und am Wochenende arbeiten.
Thema Familie: Siehe mein Originalpost. Ich hab das selbst erlebt als Kind – und erst noch als Scheidungskind. Mir hat das gut getan, dass ich immer wieder mit neuen Leuten zusammen war, wenn meine Eltern unregelmässig weg waren. Mal bei den Grosseltern, mal bei der Familie von Freunden, mal bei Onkel eins, dann bei Onkel zwo, mal beim Papa in den Bergen – das macht einen flexibel und neugierig 🙂
Zugegeben: Schwierig wirds bei Leuten, die weder andere Familienmitglieder noch Freunde haben. Aber a) sind die wohl doch sehr selten, b) zwingt einen niemand, so viele Kinder wie möglich zu haben (Stichwort “selber Schuld”) und c) sollte niemand gezwungen werden, gegen seinen Willen zu einer bestimmten Zeit zu arbeiten, weder am Wochenende noch an Wochentagen. Das wäre für mich echter Arbeitnehmerschutz: Das Recht im Gesetz festschreiben, einigermassen flexibel zu sein bei der Einteilung der Frei- und Arbeitszeit, dass man z.B. auch vier Halbtage statt zwei ganze Tage frei nehmen kann, wenn man das will. Oder: Dringend nötig ist ein gesetzlicher Schutz von Teilzeitmodellen – was mir eins zu Ohren kommt von Kolleginnen, die Mama werden, nicht auf 60-80% reduzieren dürfen und dann künden müssen… Horror! Oder: Gleiche Löhne für Frau und Mann. Oder: Abzockerei verbieten. Oder: Rentenaltererhöhungen verhindern.
Aber der mit den Bestimmungen, wann das Volk gefälligst kollektiv frei haben muss, der ist nun wirklich langsam vorbei, n’est-ce pas? – Es gäbe genug Gebiete, wo der Einsatz der Gewerkschaften wichtig und nötig wäre. Und was tun sie stattdessen? Weite Teile ihrer Basis mit dem Öffnungszeiten-Gezeter und nervigen SVP-Werbekampagnen vergraulen.
Thema nach 21 Uhr einkaufen: Schön, Sultan, dass du dein Leben immer so genau planen kannst. How boring! 😉 Ich bin zum Glück nicht so perfekt und vergesse auch mal, dass ich dieses und jenes nicht mehr im Kühlschrank habe. Oder nach der Heimkehr vom Abendessen in Zürich noch ein frisches Brot für den Morgen danach in Bern erstehen kann – bei VerkäuferInnen, die freiwillig um diese Zeit arbeiten.
Ist mir völlig Wurst, wenn ich null Service und Beratung bekomme – ich möchte einfach in den Laden gehen und kaufen können, was ich will, und nicht im Aperto eine halbe Stunden Schlage stehen für nen Liter Milch, weil das der einzige offene Laden in der Stadt ist.
Jetzt sagt ihr dann wahrscheinlich, dass Milchprodukte eh nicht so gesund sind… das wäre die logische Fortsetzung dieser Argumentationsketten.