Was ist eigentlich so faszinierend an der “Wende”?
Meine ohnehin stark ausgeprägte nostalgische Ader pulsiert besonders schnell, wenns um das “Scharnierjahr” 1989 geht, insbesondere den Fall der Berliner Mauer. Weshalb?
Vermutlich spielen einerseits Zeit und Sprache eine Rolle: Der Zweite Weltkrieg als an sich weit einschneidenderes Ereignis ist weit weg, ich habe ihn nicht miterlebt. Die späten 1980er hingegen sind mir noch sehr gut präsent. Und die Dokumente aus der DDR sind eben deutsch verfasst – die bizarre Sprache des sozialistischen Staates lässt sich für einen Deutsch Sprechenden viel unmittelbarer erfassen in all ihren feinen, seltsamen Facetten.
Andererseits spielen auch meine Herkunft und das “Direkt-Erlebt-Haben” eine Rolle: Als halber Nachkomme ungarischer 1956er-Flüchtlinge reiste ich als Kind einige Male ins zwar gulasch-, aber eben doch kommunistische Ungarn. Frühe Erinnerungen daran sind die Schweizer Pässe, die regelmässig per Post mit dem Visum für die nächste Reise von der Botschaft zurückkamen – aber auch die vielen Westwaren (insbesondere Schokolade…), die wir nach Ungarn transportierten, das stundenlange Schlangestehen vor der Grenze, den Teddybär mit der eingebauten Flasche, die rigorosen Kontrollen und meine ungeschickte Frage als Fünfjähriger während einer Autodurchsuchung, weshalb man den Grenzern nicht mitteilen durfte, dass wir bestimmte Dinge dabei hätten…
Und natürlich zahlreiche Bilder aus der grosselterlichen Diasammlung, die eine traurige Familie vor dem Eisernen Vorhang zeigen – der für die Geflohenen bis zur Erlangung des Schweizer Bürgerrechts unpassierbar war.
Alles in allem erinnere ich mich aber an friedliche Ferien im real existierenden Sozialismus, wir waren weitgehend unbehelligt. In der Badi gabs frisch fritierten Fisch, auf Béla Bácsis Datsche konnte man das Leben geniessen und im Fluss Rába (Raab) fischen, meine Urgrossmutter rupfte Hühner, die wenig später in der Pfanne dampften, die illegal erstellen Fotos von Dampflokomotiven (Staatsgeheimnis!) erfreuten uns zu Hause.
Ausserdem liebte ich es, auf den kaputten Strassen in Csabas altem Lada herumzurütteln – und Bélas Trabant bzw. der Wartburg seines Fischerkumpels waren natürlich schon Ende der 1970er Kult… die folgenden Bilder sind genau 30 Jahre alt, sie stammen aus dem Sommer 1979:
Wandel ist generell faszinierend – vor allem, wenn er so rasant vor sich geht wie zwischen den ersten Protesten im Sommer 1989 bis zur Wiedervereinigung nur ein gutes Jahr später.
Wie reagieren Menschen, wenn innert weniger Monate ihr ganzes System umgekrempelt wird? Wie verändert sich der Alltag, wenn plötzlich alles als Blödsinn gilt, das einem jahrelang eingetrichtert wurde? Wenn rauskommt, dass der Nachbar als IM bei der Stasi war? Oder ganz einfach – wie verändern sich Häuserzüge, welche Geschichten könnten all die Gebäude erzählen, bei denen noch Einschusslöcher sichtbar sind?
Wieso erzielten jene Gruppierungen, die massgeblich zur friedlichen Revolution beigetragen haben, bei den ersten freien Wahlen kaum Stimmen? Ging die ganze BRD-der-DDR-Überstülperei nicht viel zu schnell? Dieser Kontrast verleitet einen zu diesem Gedanken:
Wie gerne würde ich mich hierher beamen und mich für ein paar Stunden als dekadenter Zeitreisetourist umschauen, zuhören, mich unter die Leute mischen…
Leider sind Zeitreisen noch nicht möglich, und so wars umso spannender, zehn Jahre nach der Wende – im Oktober 1999 – erstmals im ehemaligen Ost-Berlin herumzuschländern. Damals war der Prenzlauer Berg noch weit weniger herausgepützerlt als heute. Ich machte auf dem Rückweg extra einen Umweg über Leipzig, um auch die dortigen Jubiläumsausstellungen anzugucken. Noch lieber wäre ich natürlich im Dezember 1989 dort gewesen…
Der Besuch Berlins rund 20 Jahre nach der friedlichen Revolution ist umso spannender. Es ist einem schon etwas seltsam zumute, im “Gina M.” neben der Gethsemanekirche zu tafeln und zu wissen, dass hier einer der Brennpunkte der Wende war. Dass hier vor gar nicht so langer Zeit Leute wegen ihrer Gesinnung von Vopos niedergeknüppelt wurden.
Wenig später an der Ecke Stargarder Strasse / Pappelallee: Noch das Eis der “Eiszeit” in der Hand aufs Tram wartend, neben zahllosen Strassencafés und kleinen Läden…
… im Herbst 1989 wehte an dieser Stelle noch gar kein Wind of Change, wie dieses Protokoll zeigt – im Gegenteil:
Das Original ist in der Ausstellung “Friedliche Revolution 1989/90” zu sehen, die (kostenlos) bis zum 14. November 2009 auf dem Alexanderplatz läuft. Interessant dazu ist die Website deinegeschichte.de mit vielen persönlichen Geschichten von damals.
Wie nicht anders zu erwarten, sind derzeit in Berlin zahlreiche weitere Ausstellungen zum Jahr 1989 zu sehen, auch “Momentaufnahmen 1989/1990” im Museum für Film und Fensehen am Potsdamer Platz. Ein Mekka für jene, die ungeschnittene Originalaufnahmen, Nachrichtensendungen aus Ost und West und Augenzeugenberichte mögen!
Dort ist unter anderem ein selten gesehenes Interview von NBC-Journalist Tom Brokaw mit Günther Schabowski mitzuverfolgen.
Auch im Deutschen Historischen Museum ist noch bis zum 30. August die Sonderschau “Das Jahr 1989 – Bilder einer Zeitenwende” zu besichtigen.
Mehr eigene Beiträge und Schweizer O-Töne von 1989 dann im Herbst zum “Zwanzigjährigen” in diesem Blog.
Und zum Schluss noch was ganz anderes: Die im März 2008 in Frankfurt erstmals gezeigte Ausstellung “Absolut privat!? – Vom Tagebuch zum Weblog” macht noch bis zum 30. August 2009 Halt in Berliner Museum für Kommunikation.
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